Russlanddeutsches Leben zwischen Gartenzwerg und „Aussiedlerbote“

Die Siedlung auf dem Haidach in Pforzheim.
Quelle: Miriam Keilbach
Er ist deutsch. Es steht auf seinem Pass, in seinem Pass. Geboren in Pforzheim. Seine Eltern sind deutsch, seine Großeltern, mehrere Jahrhunderte seiner Familie, alle biodeutsch, sagt er. Er spricht Deutsch mit badischem Dialekt, aus st wird schd, aus t wird d. Er hat Abitur gemacht, studiert, wurde Anwalt. Wäre da nicht, ja wäre da nicht sein Name. Seine Muttersprache. Die Namen seiner Eltern.
Für die anderen Deutschen wird er immer der Russe sein. Weil er Oleg heißt.
Für die Deutschen bleiben Russlanddeutsche oft die Russen
Von Oleg gibt es viele in Pforzheim. Pforzheim ist eine Stadt in Baden-Württemberg, die von Migration geprägt ist, nur rund 15 Prozent der Anwohnerinnen und Anwohner sind Nachfahren jener, die schon im zweiten Weltkrieg in der Stadt lebten, sagt Dekanin Christiane Quincke. Besonders hoch ist der Anteil von Russlanddeutschen. Es gibt hier - wie in anderen Städten - Stadtteile, in denen Menschen aus der einstigen Sowjetunion und ihre Nachfahren 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Klein-Moskau nannte man diese dann, oder Klein-Kasachstan.

Schwarzes Brett im russischen Supermarkt Mix Markt in Pforzheim-Haidach.
Quelle: Miriam Keilbach
Der Haidach beispielsweise, eine Siedlung im Südwesten der Stadt. Obwohl der Großteil der Menschen aus Kasachstan kam, wurde der Stadtteil von anderen Bürgerinnen und Bürgern Klein-Moskau genannt. Weiße, grüne, graue, lilafarbene Hochhäuser sind über das weitläufige, und doch familiäre Viertel verteilt. Es ist von großzügigen Grünflächen und kleinen Wegen durchzogen, an eine Stadt erinnern nur die Hochhäuser.
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Vor einem Schild mit Ballspielverbot, toben Kinder auf einer Wiese – mit und ohne Ball. Es sind 20 Grad am Gründonnerstag, die Sonne scheint, vielerorts sind Familien draußen. Eltern mit Kindern, Großeltern mit Enkeln. Es ist auffällig, wie viele Kinder hier durch die Gassen laufen und radeln, mit Tretrollern und Inlinern unterwegs sind. Autos gibt es nur auf den größeren Straßen, die Siedlung ist wie eine große Spielzone. Die Kinder heißen Oliver und Irina, Sergej und Emma.
Haidach in Pforzheim: Russische Bücher, russischer Supermarkt, russische Musik
Auf den Balkonen sonnen sich Menschen, manch ein älterer Mann oberkörperfrei, aus den geöffneten Fenstern dringt russische Musik, häufig Folklore. In den Blumenbeeten wachsen Tulpen und Osterglocken, dazwischen steht ein Gartenzwerg. Wären nicht die hässlichen Hochhäuser, könnte der Haidach eine attraktive Wohngegend sein.
An Klein-Moskau erinnert auf den ersten Blick nichts. Auf den zweiten aber: Die Wohnungsgesuche und Möbelverkäufe am Schwarzen Brett sind teils auf Deutsch, teils auf Russisch, in der Büchertauschbörse finden sich abgegriffene russische Romane, im Supermarkt liegt die kostenlose Zeitung „Aussiedlerbote“ aus – auf der zweiten Seite findet sich auf Deutsch der Hinweis, dass man den Krieg in der Ukraine verurteilt.
Ein Mix aus Badisch, Deutsch und Russisch
Vier Seniorinnen sitzen auf einer Parkbank, zwischen dem länglichen Bürgerhaus aus Holz und einer Kita, an deren Fenster eine gebastelte weiße Friedenstaube klebt. Zwei der Frauen kommen vom Einkaufen; der Haidach hat nur einen richtigen Supermarkt, Mix Markt, in dem es nahezu ausschließlich Produkte aus den ehemaligen Sowjetstaaten gibt. Eine gesamte Wand besteht aus Gläsern mit eingelegtem Gemüse, die Beschreibungen oft auf Russisch. Sie kaufe eingelegte Sachen nur dort, sagt eine der Damen in einem Mix aus Russisch, Badisch und Deutsch. „Die Deutschen legen zu sauer ein“, sagt sie, „des schmeggt ma net.“
Auf der Grünfläche des Bürgerhauses versammeln sich in den Mittagsstunden Familien mit Kindern. Das Quartiersmanagement hat zur Osterparty geladen und verschiedene Stationen aufgebaut, Eierlauf, Sackhüpfen, Ballspiele. Viele Mütter und Omas sitzen am Rande auf Bierbänken, die Kinder laufen umher. Russisch und Deutsch wird gesprochen, oft wird innerhalb eines Satzes gewechselt. Drei Frauen unterhalten sich etwas abseits auf Deutsch darüber, wie die Integration der ukrainischen Kinder in Kita und Schule gelingen kann.

Osterfeier im Bürgerhaus Haidach in Pforzheim.
Quelle: Miriam Keilbach
Putins Krieg in der Ukraine führt zu Druck auf Russlanddeutsche
Rund 2,5 Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedler leben in Deutschland, die meisten davon sogenannte Russlanddeutsche. Es sind Menschen deutscher Abstammung, die in der ehemaligen Sowjetunion geboren sind und als Aussiedlerinnen und Aussiedler bis 1992 oder als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler ab 1993 nach Deutschland kamen. Im Gegensatz zu anderen Migrantinnen und Migranten in Deutschland gelten die (Spät-) Aussiedlerinnen und Aussiedler als gut integriert: Sie sprechen weitestgehend Deutsch, sie haben eine überdurchschnittlich gute Bildung und stehen überdurchschnittlich häufig im Arbeitsleben, zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie des Sachverständigenrates für Integration und Migration.
Sie fielen kaum auf, bis Wladimir Putin am 24. Februar in der Ukraine einmarschieren ließ, Kriegsverbrechen beging und Russlanddeutsche plötzlich öffentlich aufgefordert wurden, sich zu bekennen – pro oder contra Krieg, pro oder contra Putin, pro oder contra Russland. Wer sich nicht äußerte, war öffentlichem Druck ausgesetzt, wurde als Unterstützer des Kreml diskreditiert. Nachrichten über prorussische Autokorsos am Tag, als das Massaker von Butscha bekannt wurde, flimmerten über die Bildschirme. „Es stellte sich auf einmal eine Identitätsfrage: Wer sind wir? Wer sind wir in dieser Gesellschaft? Wer dürfen wir sein?“, sagt die Pforzheimer Dekanin Christiane Quincke.
Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten ist groß
„All diese Jahre lebten wir in unserem Stadtteil friedlich und in Sicherheit“, sagt ein Mann, der seit mehr als vier Jahrzehnten auf dem Haidach lebt. „Und jetzt tobt ein Krieg in Europa zwischen zwei großen slawischen Völkern. In dieser schrecklichen Situation versuchen einige Medien in unserem Stadtteil die Deutschen aus Russland in den Fokus des Geschehnissen zu Rücken – obwohl die meisten von ihnen aus Kasachstan kommen“, sagt er weiter. „Die haben wenig mit Russen, geschweige mit Ukrainern was Gemeinsames gehabt.“ Er verurteile den Krieg, wie so viele auf dem Haidach – mehrere Menschen haben Geflüchtete aufgenommen. Mehr wolle er dazu nicht sagen, sagt er.
Denn auch das gehört zur Realität auf dem Haidach – der Krieg in der Ukraine ist präsent. Jeden Freitag treffen sich Anwohnerinnen und Anwohner zum Friedensgebet. Viele Menschen haben Verwandte in Russland wie in der Ukraine. Sie haben Geflüchtete aufgenommen, obwohl sie selbst bisweilen wenig Platz haben. Es gab Spendenaktionen und Hilfsangebote. „Wir sprechen alle Russisch und wir wissen, wie es ist, neu irgendwo anzukommen. Das ist eine Chance“, sagt eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will.
Russlanddeutsche erleben Ausgrenzungen – das führt zu einer Reaktion
Auf dem Haidach haben sie es satt, immer nur für schlechte Nachrichten herhalten zu müssen. In den Neunzigerjahren die hohe Kriminalität, später als AfD-Hochburg mit mehr als 40 Prozent bei der letzten Bundestagswahl, in den vergangenen Jahren aufgrund einer aktiven „Querdenker“-Szene. „Für den Krieg ist hier niemand“, sagt FDP-Politiker Dimitri Walter, der einst als Bürgermeister für Pforzheim kandidierte. Aber er sagt auch: „Man muss bedenken, dass die ältere Generation Jahrzehnte in der Sowjetunion vorgegaukelt bekam, im tollsten Land der Welt zu leben. Es ist für sie schwer zu verstehen, dass Russland jetzt der Aggressor ist.“
Liane Bley vom Internationalen Bund in Pforzheim bringt noch einen weiteren Faktor ins Spiel: Russlanddeutsche, die nach Deutschland kamen, haben jeweils individuelle Erfahrungen gemacht – meist aber zumindest am Anfang in irgendeiner Form Ablehnung erlebt. „Das ruft eine Reaktion hervor. Die einen strengen sich mehr an, die anderen passen sich dem Klischee an, wenn sie schon keine Deutschen sein dürfen.“
„Wir haben uns selbst nie als Russen gesehen“
In Kasachstan, Russland, Usbekistan, der Ukraine sind es die Deutschen. „In meinem Personalausweis stand: Nationalität: deutsch“, sagt Bley, in Kasachstan geboren, 1988 als 17-jährige Aussiedlerin aus Russland nach Deutschland gekommen. „Wir wussten immer, dass wir deutsch sind“, sagt sie. In Deutschland habe man das nicht immer so gesehen, ihre kleine Schwester, beim Umzug vier Jahre alt, habe ihre beiden Vornamen und damit den Rufnamen getauscht, aus Olga Eva wurde Eva Olga. „Wir fühlten uns deutsch und plötzlich wurden wir angesprochen: ‚Ach, Sie sind Russen?‘ So haben wir uns selbst nie gesehen, wir sind mit einem ganz anderen Gefühl gekommen.“
Ihre Kinder sind, wie die vieler (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedler, in Deutschland geboren, doch Prägungen der sowjetischen Kulturen wurden beibehalten, viele sprechen auch Russisch. „Die Wurzeln sind ein Schatz“, sagt Bley. „Es ist Teil der Sozialisierung. Wir können die besten Traditionen verbinden.“ Ira Peter, Journalistin und Moderatorin des Aussiedler-Podcasts „Steppenkinder“, spricht von einer „hybriden Identität“. Sie ist in Kasachstan geboren, war sich immer bewusst, Deutsche zu sein, spricht aber auch Russisch und lebte 2021 für fünf Monate in Odessa in der Ukraine. „Das sind komplexe Strukturen. Je nach Kontext“, sagt sie, „steht ein anderer Teil meiner Persönlichkeit im Fokus.“
Ira Peter ist Russlanddeutsche, Journalistin und Moderatorin beim Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“.
Quelle: Edwin Bill
Nach dem Umzug nach Deutschland habe sie ein Jahr kein Russisch mehr gesprochen, sagt Bley, „ich stand so unter Druck.“ Ihre Kinder hat sie auch nicht zweisprachig erzogen. Bei anderen Familien sei hingegen zu beobachten, dass die in Deutschland geborenen Kinder sich mehr zu Russland hingezogen fühlten. In manch einem Instagram-Profil der jungen Erwachsenen vom Haidach steht „Proud Russian“ als Beschreibung – in den Posts finden sich dann aber deutliche Worte gegen Putins Krieg. Es kann ein innerer Konflikt, ein Auseinandersetzen mit der Identität sein.
Andere Russlanddeutschen oder ihre Nachfahren wiederum haben russische Medien konsumiert – der Alltag mit der deutschen Sprache war schon anstrengend genug, nach Feierabend wollten sie nicht zusätzlich mit einer Fremdsprache konfrontiert sein.
Der „Fall Lisa“ politisiert Russlanddeutsche
Wer verstehen will, welche Dynamiken in der Russlanddeutschen-Community passieren, muss zurück ins Jahr 2016, damals, als der Fall Lisa, „Nasha Lisa“ (unsere Lisa), wie der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, zu einer Art kollektivem Trauma führte. In allen Gesprächen kommt irgendwann der Fall Lisa auf. Im Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ von Ira Peter und Edwin Warkentin gab es jüngst eine Folge dazu. Damals stellte sich die Tante einer 13-jährigen Lisa ins russische Fernsehen und behauptete, ihre Nichte sei in Berlin von arabischen Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden, die Polizei hätte die Anzeige verworfen. Zehntausend Menschen demonstrierten deutschlandweit, an vorderster Front marschierten Rechtsradikale, angeheizt von Aufrufen der russischen Regierung. Auch in Pforzheim gab es eine solche Demo, organisiert vom Haidach aus.
Nur wenig später stellte sich heraus: Das Mädchen erfand aus Angst vor ihren Eltern ihre Entführung. Die Polizei hatte die Anzeige nicht verworfen, sondern bei der Befragung bereits Widersprüche festgestellt – aufgrund fehlender Kenntnisse der Ermittlungsabläufe kam es zu Missverständnissen. Doch selbst als die Polizei den Sachverhalt öffentlich darlegte, goss die russische Regierung Öl ins Feuer, unterstellte der Polizei öffentlichkeitswirksam Lügen.

Demonstration im „Fall Lisa“ in Berlin 2016.
Quelle: imago/Olaf Wagner
Kreml richtet Propaganda gezielt an Russlanddeutsche
Es sei das erste Mal gewesen, dass Russland bemerkte, dass sich bei Russlanddeutschen etwas holen ließe, sagte Politikwissenschaftler Felix Riefer im Podcast „Steppenkinder“. Die Desinformationskampagnen, die Russland bereits nach den Maidan-Protesten und der Annexion der Krim 2014 erstmals gezielt einsetzte, und die sich damals vor allem an die innerrussische Bevölkerung richtete, wurde ausgeweitet. „Es wurde nachgeholfen. Die Erlebnisgeneration wurde gezielt gefüttert über russische soziale Netzwerke“, sagt Riefer über die Generation Russlanddeutscher, die sich aus freien Stücken dazu entschied, nach Deutschland auszuwandern. Es wurde ein Gefühl geschaffen: Wenn ihr in Deutschland nicht willkommen seid, kommt heim nach Russland, heim zu Putin.
Vor allem jene, die nicht so gut integriert waren, oder weiterhin russische Nachrichten konsumierten, konnten so vereinnahmt werden. Später verstand keiner mehr so wirklich, wie diese Manipulation passieren konnte, die Russlanddeutschen galten bis dahin als eher unpolitisch und unauffällig, Demonstrationen lagen ihnen fern. „Diejenigen, die für Lisa auf die Straßen gegangen waren, hatten sich später geschämt, als klar wurde, dass alles nur eine Lüge war. Aber dieser Vorfall wurde irgendwie aus dem Bewusstsein verdrängt“, sagt Podcasterin Ira Peter, „viele wollen da aktuell keine Parallelen sehen.“
Identitätskonflikte führen zu Verunsicherung
Dekanin Quincke glaubt, dass die Selbstwahrnehmung als Deutsche und die Fremdwahrnehmung als Fremde dazu geführt hat, dass sich so manch eine Person vereinnahmen ließ. Das habe zu großer Verunsicherung geführt. In einigen religiösen Gemeinden, auch christlichen, sei das Gefühl von „Wir gegen die“ bewusst heraufbeschworen worden, an das NPD, AfD, „Querdenker“ und kremlnahe Propaganda anknüpfen.
Erfolgreich war die kremlsche Ukraine-Propaganda auf dem Haidach bisher nicht. Im Gegenteil, wie vielerorts in Russlanddeutschen-Communitys ist die Hilfsbereitschaft hoch. „Wir haben eine ähnliche Mentalität, einen ähnlichen sprachlichen und kulturellen Hintergrund“, sagt die Mannheimerin Peter. „Ich erlebe so starke Netzwerke wie noch nie.“ Würde in Telegram- oder WhatsApp-Gruppen jemand posten, dass Hilfe benötigt werde, etwa als Begleitung bei einem Gang aufs Amt, würden sich binnen Minuten Freiwillige finden.
Kremlpropaganda entzweit russlanddeutsche Familien
Konflikte zwischen Ukrainerinnen und Ukrainern und russisch gelesenen Personen in Deutschland gab es zwar, aber sie bilden eine Ausnahme – denn auf beiden Seiten stehen oftmals Personen, die familiäre Beziehungen in beide Länder haben. Schwarz und weiß, wie sich viele Deutsche das ausmalen, gibt es nicht. „Ich habe die Tage ein geflüchtetes Ehepaar entgegen genommen, dessen Sohn in Moskau lebt, die Tochter in den USA“, sagt Bley. „Das russischstämmige Lehrpersonal unterrichtet ganz normal ukrainische Schülerinnen und Schüler, da waren keine Aufklärungsgespräche oder ähnliches notwendig.“
Eine Russophobie, wie sie auf prorussischen Autokorso angeprangert wird, hat keine der Personen erlebt. Liane Bley sagt, sie spreche mehr Russisch als je zuvor in Deutschland. Sie sei deshalb nie komisch angeschaut worden. Die Fake News über Anfeindungen gegenüber russisch gelesenen Menschen schüren trotzdem eine Unsicherheit. „Jede Lüge hinterlässt Zweifel“, sagt Ira Peter. Sie hat den Kontakt mit manch einem entfernten Familienmitglied abgebrochen. „Die Propaganda ist überall. Und vielen ist nicht klar, wie belastend das für Menschen ist, wenn da ein Riss durch Familien geht.“ Sie erlebe, dass nahezu alle deutlich gegen den Krieg seien, aber längst nicht alle gegen Putin.
„Einige äußern sich nicht, um ihre Familien zu schützen“
Viele Russlanddeutsche sind inzwischen müde. Müde, sich rechtfertigen zu müssen. Müde, als Russe oder Russin klassifiziert zu werden. Müde, immer und immer wieder nach der Haltung gefragt zu werden. Aber es gibt auch Verständnis: „Ich kann jede Person verstehen, die sich nicht äußern möchte“, sagt eine ukrainische Tänzerin, „einige äußern sich nicht, um ihre Familien in Russland und der Ukraine zu schützen.“ Sie selbst bangt um das Leben ihrer Familie in der umkämpften Stadt Charkiw.
Andere sagen, die Deutschen seien auch nicht pauschal aufgefordert worden, sich von den „Querdenkern“ zu distanzieren – weil man nie auf die Idee gekommen sei, die „Querdenker“ als die Deutschen wahrzunehmen. Man habe sich immer wieder ins Bewusstsein geführt, dass es eine bisweilen radikale Minderheit ist.
Anders ist es bei Ira Peter und Liane Bley. Ira Peter sagt, sie möchte den Rechten nicht das Feld überlassen, wie Russlanddeutsche gesehen würde. Und Liane Bley – die gibt zu, eigentlich keine Lust auf wieder ein Interview zu dem Thema gehabt zu haben. Aber dann sieht sie wieder, wie wichtig es ist, gegen Vorurteile anzugehen. Ihr Vater, erzählt sie, sage ihr öfter, sie solle den Mund halten. Er, ein Opfer des KGB, hat Angst um seine Tochter. Die wollte eigentlich im kommenden Jahr auf den Spuren ihrer Familie wandeln, von der Ukraine nach Russland und Kasachstan. Die Reiseplanung stammt aus einem anderen Zeitalter.